Agiles Arbeiten – die Lösung für Teams im Homeoffice?

von | Mai 20, 2020 | Coaching, Organisationsentwicklung

Mitarbeitende im Homeoffice zu koordinieren, erfordert nicht nur neue technische Tools sondern auch neue Arbeitsweisen. Top-Down-Hierarchien und Wasserfall-Ansätze stoßen hier an ihre Grenzen. Corona-Zeit ist die Sternstunde einer Arbeitsweise, die ich bereits seit Jahren bevorzuge: Das Agile Arbeiten.

Agiles Arbeiten bedeutet im engsten Wortsinne erstmal: Wendiges Arbeiten. Und es stimmt: Organisationen, die agile Prozesse etablieren, werden wendiger, können sich schneller neuen Gegebenheiten anpassen, man kann auch sagen: Es werden resilliente Organisationen. Denn wer agil arbeitet, der fährt auf Sicht – und das ist, was in Zeiten von Corona alle tun müssen.

Delfin statt Wal

Eine Metapher stellt die agile Herangehensweise gut dar; es ist die vom Delfin und dem Wal. Während der Wal das Ziel einmal festlegt, dann untertaucht und so lange unter Wasser bleibt, bis er das Ziel erreicht hat, taucht der wendige Delfin zwischendurch immer mal wieder auf, um Luft zu schnappen. So kann er sehen, ob sich das Ziel bewegt hat, und ggf. rechtzeitig den Kurs nachjustieren, während der Wal im worst case am Ende seines Tauchganges feststellen muss, dass er hunderte Meter daneben liegt. Für eine Projektplanung im Agilen Arbeiten bedeutet das: Ein langfristiges Jahres- oder Fünf-Jahres-Ziel definiert man am Anfang nur sehr grob, dafür trifft sich das Team aber regelmäßig, um zu prüfen wo man steht, und ob man ggf. nachjustieren muss.

Flaschenhals abschaffen

Wenn alle Entscheidungen über einen einzigen Vorgesetzten laufen, kann das extrem lange dauern. Diese eine Person erzeugt dann einen Flaschenhals-Effekt. Einen Flaschenhals-Effekt aber gilt es abzuschaffen, schon allein deswegen, weil in Corona-Zeiten Menschen auch mal kurzfristig ausfallen oder auf Grund der Doppelbelastung von Homeschooling und Pandemie-Office nicht immer erreichbar sind. Im Agilen Arbeiten werden daher verteilte Verantwortlichkeiten und flache Hierarchien etabliert. Das bedeutet: Nicht eine Person entscheidet alles. Sondern in allen Bereichen entscheiden die Personen, die die jeweilige Expertise mitbringen und/oder die von den Entscheidungen am unmittelbarsten betroffen sind. Solche verteilten Verantwortlichkeiten können mit sich überlappenden Entscheidungs-Kreisen und vorab definierten Rollen abgebildet werden, die Systeme Soziokratie und Holokratie sehen beispielsweise so etwas vor.

Transparenz, Kanban und Akzeptanzkriterien

Wo nicht eine Person den Überblick hat, was alle anderen tun, braucht es auf der anderen Seite ein hohes Maß an Transparenz, damit kein Chaos entsteht. Alle Aufgaben und deren aktueller Status müssen stets für alle Beteiligten einsehbar sein. Aktueller Status bedeutet: An was wird derzeit gearbeitet? Wer arbeitet an was? Was ist bereit für den nächsten Schritt? Und: Was stet als nächstes an? Ein Kanban-Board mit den Spalten „Backlog“, „ToDo“, „Doing“, „Blocked“ und „Done“ ist ein gutes Instrument dafür.

  • Backlog ist die Ideenablage, hier kann jeder Einfall einfach eingetragen werden.
  • Damit eine Idee zu einem „Ticket“, also einer Aufgabe wird, muss sie ausformuliert werden. Eine ausformulierte Idee hat eine Vision, konkrete Akzeptanzkriterien, eine Deadline, Zuständigkeiten und einen Plan B. Ein Ticket kann so aussehen: „Wir möchten eine saubere Küche, damit wieder alle Bewohner gerne kochen statt sich Pizza zu bestellen. Sauber bedeutet: Boden putzen 1x pro Woche, Kaffeemaschine säubern täglich, Spülmaschine an wenn voll. Wir merken, ob wir Erfolg hatten, wenn bis Ende des Monats 50 Prozent weniger Pizzen bestellt wurden. Zuständig dafür ist diese Woche Michael, kommende Woche Sandra und die Woche drauf Anne. Plan B: Wenn wir bis Ende des Monats das Ziel nicht erreicht haben, dann bezahlen wir einen Reinigungsservice.“
  • In die Spalte „Doing“ wandert ein Ticket, wenn gerade eben eine Person daran arbeitet.
  • „Blocked“ bedeutet, dass ein Ticket aus externen Gründen nicht weiterbearbeitet werden kann. Ein externer Grund ist: „Das Putzmittel ist alle und weil Feiertag ist kann ich kein neues kaufen.“
  • In „Done“ wandert ein Ticket, wenn es scheinbar fertig ist. Ob es wirklich fertig ist, entscheiden alle gemeinsam.

Sprints, CheckIns und Timeboxing

Um vom Reden schnell ins Machen zu kommen, arbeiten Agile Teams in Sprints, das sind vorher definierte Arbeitsphasen. Ein Sprint dauert klassisch zwischen einer und zwei Wochen. Zu Beginn jedes Sprints steht das „Sprint Planning“, hier bespricht man gemeinsam anstehende ToDos, wandelt ggf. Ideen in Tickets um und definiert die Meta-Ziele des Sprints (ähnlich der 5-Jahres-Ziele, nur dass es eben 7- bzw 14-Tages-Ziele sind). Dann geht es ans Arbeiten. Es gilt das Pull-Prinzip, dass heißt, alle Mitarbeitenden ziehen sich ihre Tickets proaktiv und achten selbst darauf, sich nicht zu über-, aber auch nicht zu unterfordern. Innerhalb des Sprints findet kein Planning mehr statt, das ganze Team soll sich ja auf’s Arbeiten konzentrieren. Stattdessen gibt es regelmäßig, zum Beispiel täglich, ein CheckIn. Ein CheckIn dauert maximal 15 Minuten und geht so:

  • Start mit einer informellen Frage (“Wie geht es mir heute?”, “Was habe ich gestern nach Feierabend gemacht?”, “Wie läuft es im Home Office?”) → dient dem sozialen Zusammenhalt des Teams
  • Teil 1 fokussiert auf die Vergangenheit: “Was habe ich im letzten Arbeitszyklus erreicht?”
  • Teil 2 blickt in die Zukunft: “Was habe ich mir für diesen Arbeitszyklus vorgenommen?”
  • Teil 3 zeigt Schnittstellen auf: “Was brauche ich von den Anderen dafür?”

Generell ist es wichtig beim Agilen Arbeiten Phasen der Abstimmung, und Phasen des Machens voneinander zu trennen. Es ist wichtig, explizit zu definieren in welcher Phase man sich grade befindet, und ein Timeboxing einzuführen, also das Zeitfenster zu definieren und eine Stoppuhr zu stellen.

Rollenzuschreibung

Damit verteilte Verantwortlichkeiten funktionieren, müssen Rollen, die vorher alle dem Vorgesetzten in Perosnalunion zugefallen sind, neu verteilt werden. Rollen können sein: Mitarbeiterzufriedenheit, Budgethoheit, Protokoll, Lohnauszahlung, Bewerbungsgespräche, Bürosauberkeit. All diese Rollen können wiederum nach Kompetenzen im Team verteilt werden, sie können aber auch rotieren, damit mehr Identifikation mit der Organisation entsteht und sich nicht zu viel Herrschaftswissen in einer Person bündelt (vgl. Flaschenhals).

Scrum

Ein Ansatz, der alles oben beschriebene abbildet, ist Scrum. Scrum ist eine sehr komplexe Variante des Agilen Arbeitens. Man kann teuere Workshops besuchen um Scrum zu lernen, und dann für rund 100 EUR einen Scrum-Text absolvieren um ein Zertifikat zu erhalten. Im Scrum gibt es die Rollen „Scrum Master“, „Product Owner“ und „Developer“, es gibt Artefakte und viele andere Dinge zu beachten. Mir hat ein Scrum-Workshop sehr geholfen Agiles Arbeiten generell zu begreifen. In meinen Beratungen wende ich Scrum allerdings nie zu 100 Prozent an, sondern greife gezielt nur die Elemente heraus, die für die jeweilige Organisation im jeweiligen Kontext Sinn ergeben und auch realisierbar sind.

Titelfoto: Photo by Jason Goodman on Unsplash