Warum Journalismus niemals neutral war

von | Mai 17, 2020 | Journalismus

Besonders unter Verschwörungstheoretikern und hobbymäßigen Medienkritikern ist diese These weit verbreitet: Journalismus muss neutral sein, und wenn ein Artikel es nicht ist, hat der Journalist seinen Job nicht richtig gemacht. Ein gewaltiges Missverständnis. Ich arbeite seit bald 20 Jahren als Journalist und besitze einen Presseausweis von der Deutschen Journalisten-Union. In diesem Text räume ich mit dem Neutralitäts-Mythos auf.

„Sagen, was ist“, lautet der Slogan, mit dem DER SPIEGEL seit ein paar Jahren seine Medien bewirbt. Vielleicht rührt es daher, dieses Missverständnis, Journalismus habe unter jeden Umständen immer neutral zu sein. Neulich hatte ich einen Artikel in einer Facebook-Gruppe veröffentlicht, den ich über einen Zusammenhang geschrieben hatte, in den ich selbst involviert war. Eine Bekannte schrieb: „Bitte hör‘ auf, dies als Artikel zu bezeichnen, es gibt nichts Recherchiertes oder Journalistisches darin. (…) Es kann keinen Anspruch auf Neutralität erheben.“ Das ließ mich baff zurück.

Erstmal zur Begriffsdefinition: Die Forderung, meinen Blogbeitrag nicht mehr als „Artikel“ zu bezeichnen, ist natürlich hanebüchener Unsinn. Was soll es denn sonst sein: Ein Film? Ein Theaterstück? Ein Poetry Slam? Nein, ein Artikel ist ein Stück Text, der irgendwo veröffentlicht ist. Auch ein Text in einem Werbeprospekt kann ein Artikel sein. Dann: Der Vorwurf, mein Artikel hätte nichts „Journalistisches“, klingt natürlich erstmal krass, entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als Luftnummer. Einem Artikel das „Journalistische“ abzusprechen, wäre in etwa, wie einem Brot beim Bäcker das „Bäckerische“ abzusprechen oder einem Gerichtsurteil beim Richter das „Juristische“ – eine nichtssagende Floskel. Was den Vorwurf der fehlenden Recherche angeht: Ich war in den Zusammenhang selbst involviert. Damit bin ich nicht mehr neutral, so etwas nennt sich dann „Investigativ“ und es kommen am Ende subjektive Reportagen heraus, oder Kommentare.

Medien und Darstellungsformen

Tätig als Journalist seit 1998: Das bin ich beim Sichten einer Foto-Reportage irgendwann in den 2010er Jahren.

Denn es gibt im Journalismus, genau wie auch bei Büchern und Filmen, verschiedene Darstellungsformen bzw. Gattungen, neudeutsch würde man wohl sagen, Genres. Nur zwei dieser Genres versprechen Neutralität: Erstens der Bericht, zum Beispiel der Wetterbericht, der einfach Tatsachen widergibt (Ausnahme ist der Erfahrungsbericht, der ja genau die Widergabe persönlicher Erfahrungen als Alleinstellungsmerkmal hat). Zweitens die Meldung, beispielsweise die Eilmeldung, die ohnehin nur aus wenigen Sätzen besteht. Alle anderen journalistischen Darstellungsformen ordnen ein, wägen ab, der Autor gibt seine Meinung wider oder eine ganze Redaktion bezieht Stellung zu einem Thema, beispielsweise in einem Leitartikel oder einer Wahlempfehlung.

Wie wählt nun ein Journalist die Quellen und Meinungen aus, die er in seinen Artikel oder in seinen Fernseh-Beitrag einbaut? In einer journalistischen Ausbildung lernt man, dass in einem guten Artikel verschiedene Meinungen bzw. Perspektiven zu Wort kommen sollen. Das berücksichtige ich meistens, wenn ich einen Text aufbaue – nicht, weil es irgendeine Zensurbehörde kontrollieren würde, sondern, weil es meine Artikel in der Regel besser macht. Ich baue allerdings nicht jede Meinung, die zu einem Thema existiert, in meine Artikel ein. Wenn ich über das 75jährige Ende des zweiten Weltkrieges schreibe, weiß ich sehr wohl, dass es Holocaust-Leugner gibt. Die Meinung, den Holocaust hätte es nie gegeben, hat aber in meinem Artikel nichts zu suchen, weil sie den Text nicht aufwertet. Ebenso hätte in einem Artikel, den ich über Corona schreiben würde, die Meinung, Corona wäre von Bill Gates gezüchtet worden, nichts zu suchen.

Braucht es einen Medienführerschein?

Was mich an den Diskussionen mit den selbst ernannten Medienkritikern am meisten stört, ist, dass sie ihr eigenes Halbwissen oftmals als letztgültige Wahrheit betrachten, statt die Experten, die sich auskennen – den Journalisten und den Medienwissenschaftlern – um ihre Einschätzung zu bitten. Das ist analog so, wie derzeit Verschwörungstheoretiker ohne Medizinstudium Virologen erzählen wollen, wie sie ihren Job zu machen haben. Die Tonalität in oben erwähnter Facebook-Gruppe war nicht etwa: Du bist ja Journalist, kannst du uns mal erklären, was der Unterschied zwischen einem „Artikel“ und einem „Text“ ist? Die Tonalität war stattdessen: „Du als Journalist solltest wissen, dass man sowas nicht als Artikel bezeichnen darf“. Ein Kollege hatte vor Jahren mal den Vorschlag gemacht, einen Medienführerschein einzuführen, ohne den man nicht berechtigt ist, bestimmte Medien zu konsumieren. Vielleicht keine schlechte Idee: Nur weil man Texte lesen oder Videos anschauen kann, ist man eben noch lange nicht in der Lage, diese auch einzuordnen.

Titelfoto: Photo by Roman Kraft on Unsplash